Unmittelbar vor der Bekanntgabe der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen (SIEHE UNTEN) treffe ich mich mit T. zum Mittag im Cafe Casper & Gambinis im postmodernen Nile City Towers, wo er als Umweltspezialist in einem großen Bauunternehmen Ägyptens arbeitet. Wie steht die Wirtschaft zum vorläufigen Ausgang der Präsidentschaftswahlen, möchte ich von ihm wissen. Die Wahl zu treffen fällt ihm persönlich schwer – zwischen Ex-Regierungschef Ahmed Schafik (Bild 3), dem zweitplatzierten, und Mohammed Morsi, dem Wahlsieger (Bild 1 und 2). Morsi ist der Kandidat der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, des politischen Arms der Muslimbruderschaft. Der Hoffnungsträger der reformorientierten Kräfte Abu El Fotouh (Bild 4) ist der Wahlverlierer.
Auch wenn T. heute noch nicht weiß, für wen er sich entscheiden soll, Klarheit von den tönenden Wahlwerbern verspricht er sich nicht. Schafik steht klar für das alte Regime und für eine nachgiebige Haltung gegenüber den Militärs, auch wenn er nun von einer „neuen Ära“ für das Land spricht, erklärt T. Morsi will einen stark islamischen Weg, ist für T. ein Profiteur der Revolution und kein Garant für dessen Fortführung, so etwas wie eine Sphinx, dem man nicht über den Weg trauen könne. „Und damit haben wir ein Problem“, sagt er, die Wahl zwischen dem Teufel und dem Belzebub.
Ich möchte wissen, wie die großen Wirtschaftsunternehmen denken, ob sie Einfluss nehmen. „Wahlprüfsteine? Vielleicht keine schlechte Idee, aber darauf ist noch niemand gekommen“, sinniert er. T. sehnt sich nach einem „guten Mann“, nicht einem starken Mann, wie es die Wirtschaftsführer gerne hätten (und der Spiegel unlängst titelte). Natürlich sei die Sicherheitsfrage keine Nebensache, aber Sicherheit würden doch alle versprechen. Eine der zentralen Aufgaben sei es doch, die Macht der Militärs zu beschneiden und ihren immensen Besitz an den Wirtschaftsressourcen des Landes umzuverteilen. „Bei diesen Kandidaten kann ich nicht erkennen, wie das laufen soll“, so sein deprimierendes Resümee.
Ähnliches höre ich von anderen Freunden in Kairo, die sich den liberalen, reformorientierten Kräften zurechnen lassen. Auf dem Rückweg habe ich im unvermeidlichen Stau die Gelegenheit, mir die Plakate übersetzen zu lassen, mit denen ein anderer Leidensgenosse seine Karosse vollgeklebt hat. „Ich werde meine Stimme niemals demjenigen geben, der seine Befehle von Murshid empfängt“, steht zu lesen. Murshid bedeutet „Führer“ oder „Lehrer“ und steht für die Führung der Muslimbrüderschaft, namentlich Mohammed Badie, dem starken Mann hinter den politischen Frontlinien. Oder ist am Ende Morsi das kleinere Übel und eher in der Lage, die Militärs zurückzudrängen? Die Stimmungslage in Kairo vor der Stichwahl am 16. und 17. Juni scheint völlig offen zu sein.
OFFIZIELLES AMTLICHES ENDERGEBNIS (und die Namen der Köpfe)
- Mohamed Morsi : 5,764,968 votes (Bilder von oben nr. 1 und 2)
- Ahmed Shafik : 5,505,327 votes (Bild von oben nr. 3)
- Hamdeen Sabbahi : 4,823,273 votes
- Abu El Fotouh : 4,650,239 vote (Bild des Verlierers nr. 4)
Wahlbeteiligung: 23.670.236 Stimmen; 46, 42 Prozent
Amtliches Endergebnis vom 28.05.2012, 16:00