Wir fallen heraus aus dem Mittelmeer-Himmels-Blau. Die Landung auf dem Rafiq-Hariri-Flughafen Beirut, dessen Landebahn ins Meer hineinragt, ist weich. Mit an Bord sitzen vorwiegend syrische Frauen und Kinder, die der Mittelschicht zuzurechnen sind, zu erkennen an ihren zumeist glatten, hell gemusterten Kopftüchern. Syrien ist in diesen Tagen allseits präsent, nicht nur in den Flügen von uns nach Beirut, und längst nicht nur von und nach Damaskus. Sondern auch in den Straßen Beiruts angesichts von nunmehr einer Million Flüchtlingen. Und vor allen in den Köpfen, in Gesprächen, in den Medien. Wie ein riesiges Damoklesschwert schwebt Syrien in diesen Tagen über dem Libanon. Damaskus: Das sind 150 km hinter den Bergen des Libanon.
Das nach dem Bürgerkrieg neu entstandene Zentrum ist nur bei Tag gut besucht. Nachts ist es ausgestorben, angesagt ist Hamra
Äußerlich ist alles gleich geblieben seit meinem letzten Besuch vor drei Monaten. „Wir haben das schönste Wetter der Welt“, empfängt mich der Fahrer der Agentur, doch seine Miene spricht eine andere Sprache. Ich frage nach. „Natürlich wir sind alle besorgt, aber wir sind guter Hoffnung“, versucht er mich einzustimmen.
Ich bin verabredet mit Sehem und Marie, die eine der größten Meinungsforschungsinstitute des Landes leiten. Was uns per se verbindet: Wir sind im gleichen Alter, wir alle haben Familien mit zwei Kindern. Wir verstehen uns, wir mögen uns, sind wie gute, befreudete Nachbarn. Zum Auftakt unserer zweitägigen Arbeit treffen wird uns in einem kleinen Restaurant dessen Plattform ins Meer herausragt, umsäumt von blau. Man sitzt auch gerne im Bikini und zeigt, was man hat. Hier das alt-neue Paris des Ostens, dort das prüde Ägypten. Kontraste einer Region. Jugendliche planschen an den Felsen. „Baden ist allerdings nicht ratsam“, meint Sehem. Doch man lebt heute und der nächste Badestrand ist weit, also was solls.
Eine Kundgebung der Hezbullah in der Nähe des Messegeländes
Syrien und der Libanon: Es platzt regelrecht aus ihnen heraus, und sofort sind wir mittendrin. „Dass Hezbullah in Syrien kämpft, ist hier nicht das Problem“, beharrt Sehem auf meinem Einwand hin, dass Europa und die USA die Intervention in Qusair nicht gutheißen könnten. Allerdings macht es ihr Angst zu sehen, wie das Land immer tiefer hineingezogen wird, überall. Heute syrische Raketen, die in Baalbek einschlagen. Morgen vielleicht ein Anschlag im Süden oder hier im Zentrum. Zwei hundert Meter ist der Ort entfernt, an dem Rafiq Hariri 2005 in die Luft gejagt wurde – von der Hezbullah, wie man heute recht sicher weiß.
Eigentlich sollten sie eine Meinungsumfrage in diesen Tagen in Tripolis im Norden starten, doch wo wild geschossen wird, machen Umfragen wenig Sinn, also verschoben. Auftraggeber ist, wie ich erfahre, die Hezbullah. Sehem ist bekennende Sunnitin, Marie eine gläubige christliche Maronitin, ist da ein solcher Auftrag kein Problem, will ich wissen. Sie lächeln wissend. Nein. Die Hezbullah sei sogar ihr bester Kunde. Zahlt pünktlich, ist hochprofessionell und sehr gut organisiert. Ein Staat im Staat, der auch auf eine solide Meinungsforschung angewiesen sei. Und wenn der Westen sie zur Terrororganisation stempeln sollte, würde das hier niemanden wirklich interessieren, die Hezbullah am wenigsten. Sie sei nicht angewiesen auf den Westen, aber das Land ist angewiesen auf die Hezbullah. (Am gleichen Tag scheitert die Verurteilung der Hezbullah-Intervention in der Sondersitzung der Arabischen Liga am Veto Libanons.)
Nachmittags besuchen wir die Kongressmesse „Projekt Libanon“, auf der in drei Hallen die Baubranche sich ein Stell-Dich-Ein gibt. Auch Deutschland ist mit einem eigenen Pavillon vertreten. „Leider sind im letzten Augenblick fünf unserer Firmen abgesprungen“, beklagt der Vertreter des zuständigen Ministeriums. Das sind 30% Minus. Er versteht das nicht, auch das Auswärtige Amt habe schließlich keine Sicherheitswarnung erlassen. Doch das leicht Absurde des „Projekts Libanon“ ist auch von ihm nicht ganz von der Hand zu weisen. Der Bau lebt schließlich von dem Glauben in eine friedliche Zukunft. Die Türkei, im letzten Jahr noch der stärkste Aussteller, hätte sich weitgehend zurückgezogen. Der Einbruch der Branche sei heute unverkennbar.
Gepanzerte Kolonnen – Alltag im Stadtzentrum
Wo Panzer rollen, muss man eigentlich nicht über energieeffizientes Bauen reden. Dass man es aber dennoch tut, dass auch Beharren sich letztlich auszahlt, hält solche Projekte am Leben. So überlebt Beirut seit Jahrzehnten und erfindet sich ständig neu. Ich rede mit libanesischen, belgischen, ägyptischen Marketingleitern. Das Geschäft könnte besser sein, natürlich, aber man sei zufrieden, die Geschäfte gingen ja weiter. Das Damoklesschwert Damaskus ist weit, viel mehr als 150 Kilometer entfernt, hinter einer doppelten Bergkette des Libanon.
Ich schaue beim Verlassen des Messegeländes hoch zum Kamm der betonbewaldeten Hügel Beiruts und nehme mir ein Taxi zur Ausgehmeile Hamra. Der Tag hatte es in sich. Gerne hätte ich ein wenig am Nachtleben des Hamra genippt, doch nach dem Nippen am zweiten frisch gezapften Bier bin ich zum Umkippen müde und überlasse das Feld den Besuchern der angesagtesten Pubs, Discos und Bars der Stadt. Ich nehme noch mit, wie die ersten Nachtschwärmer in edelsten Markenkarossen aus den Villenquartieren am Kamm heruntergeschwirrt kommen, alles laufstegerprobte Paare und Grüppchen. Man zeigt in Beirut gerne, was man hat. Kairo ist wo anders.
Am nächsten Morgen sind wir gemeinsam mit S. verabredet, die an einem Politikberatungsinstitut an der renommierten AUB (American University of Beirut) arbeitet. Wir treffen uns in der Mensa auf dem Campusgelände, das umringt von Hochhausschluchten des Hamra-Bezirks, eher in Pennsylvania stehen könnte, mit dem Flair des 19. Jahrhunderts in einer Kleinstadt wie Bryn Mawr, wo ich von einigen Jahrzehnten aufgewachsen bin.
Ich fühle mich also ganz zu Hause und wir kommen schnell zum Punkt, loten unsere Gemeinsamkeiten aus, besprechen, wie wir in den kommenden Monaten einen kleinen Dokumentarfilm auf den Weg bringen können. S. ist, wie alle, mit denen ich zusammenarbeite, direkt, unkomplizierter als Menschen in anderen Regionen des südlichen Mittelmeerraums, charmant.
Downtown, rund um den Hamra
Nicht nur das Wetter, auch die direkte Offenheit ist eine logische Konsequenz der Umstände und Lebensgefühl. S. verabschiedet uns mit einem kleinen Klagelied von Teuerung und Flüchtlingselend und lächelt verlegen.
Vor den Toren der AUB lümmeln bettelnde syrische Kinder und Frauen. Beim Sandwich am Hamra diskutieren Marie und ich abschließend über die Frage, ob die Homoehe – nun in Frankreich und Deutschland rechtlich zugelassen – auch ethisch rechtens sei. Sehem muss früher gehen, weil ihr Ältester sich den Finger in der Schule ernsthaft verletzt hat. Es gibt auch andere Themen als Syrien. Und das ist auch gut so.
Die Bilder sind im letzten Herbst entstanden
Marcel